Die Austreibung aus dem Paradies

Gabriele Stötzer

Im Projektraum FOTOGRAFIE, FILM, KERAMIK, TEXTIL Ausstellung 14.7. – 18.8.2023

Eröffnung 13. Juli 2023, 19 Uhr Einführung Gabriele Stötzer im Gespräch mit Franziska Schmidt Finissage Donnerstag, 17. August 2023, 19 Uhr Mit einer Performance von Gabriele Stötzer

„ich habe gelebt / was sie noch gar nicht gedacht haben / nur meine augen wissen mehr und haben einen anderen horizont“ (G. Stötzer, 1984)



 

Das künstlerische Werk von Gabriele Stötzer überschreitet Grenzen und Genres. Mit ihren Selbsterkundungen und -behauptungen hat sich die Künstlerin Stötzer seit Ende der 1970er-Jahre immer wieder gegen kulturelle, gesellschaftliche und politische Widerstände behauptet. Ihre künstlerische Kraft und Intensität begründen sich einmal in den psychischen und physischen Seinserfahrungen, die sie 1976 während einer einjährigen Haftstrafe wegen Staatsverleumdung im Frauengefängnis Hoheneck (Sachsen) durchleben musste, sowie durch die in den Folgejahren bestehenden Repressalien durch die staatlichen Behörden der DDR. Das Schreiben und die Kunst wurden ihr zur Überlebensnotwendigkeit gegen Auflösung, Auslöschung, Liquidation und zum künstlerischen Ausdruck einer inneren Freiheit und Wirklichkeit. Stötzers Arbeiten – dies sind neben Texten und Fotografien auch Malereien, Zeichnungen, Keramiken, Textilkunst, sowie Performances, Filme, Modeobjekte – richten sich aber vor allem gegen bestehende kulturelle Normen und Rollenbilder der Frau und damit gegen verbundene Geschlechterstereotypen, welche die Frau oftmals zum Opfer bestimmt. 


Die Themen, die Stötzer allein oder mit anderen Darsteller:innen erarbeitet hat, versuchen das eigene Leben und Empfinden in künstlerische Formen zu bannen. Frauenleiber, nackt oder verwandelt, gerieren zum Aufbegehren und fordern kompromisslos eine andere Subjektivität, fern vom gesellschaftlichen Frauenbild, fern von den Vorstellungen des Maskulinen. Der weibliche Körper, die weibliche Selbstermächtigung und Selbstbestimmung sowie archaische Vorstellungen werden zum Bildträger oder Objekt und die damit verbundenen Erzählstränge zum zentralen Motiv. In den Werken verbinden sich Momente von Verletzlichkeit, Sinnlichkeit, Sehnsucht und Fühlbarkeit.




Für Stötzer liegt die Kraft des Subjekts vor allem in der Kraft der Begegnung, weswegen sich ihr Agieren letztendlich nicht nur auf sich selbst, sondern auch auf das gemeinsame Erleben in einem kollektiven Prozess konzentriert. Neben der eigenen Arbeit avancierte in den Jahren von 1984 bis 1994 eine jüngere Frauengemeinschaft um Gabriele Stötzer zur Künstlerinnengruppe Erfurt, die mehr als zehn Jahre lang kreativ und selbstständig arbeiten sollte und deren Schaffen poetische Widerständigkeit und Projektionsfläche wie auch Ort politischer und sozialer Einschreibungen bot. 

In Stötzers Arbeiten liegt bis heute eine universelle Kraft, losgelöst von Raum und Zeit, die das Unaussprechbare und Unberechenbare sowie Träume und Visionen vermittelt. Wie ein lebendiges Gewebe spinnt sich ihr vielschichtiges Œuvre zu einem eigentümlichen Bilderkosmos, in seiner parallelen Vielfalt eindrucksvoll und überbordend zugleich.
 
Die Ausstellung „Die Vertreibung aus dem Paradies“, nach einem gleichnamigen Super-8-Film Stötzers benannt, versammelt Fotografien, Keramiken und Textilobjekte sowie einen Film und Text, die zwischen 1981 und 2023 entstanden sind.

 

Text: Franziska Schmidt

Das Werk von Gabriele Stötzer wird wissenschaftlich und kuratorisch von Franziska Schmidt betreut. Sie ist freiberufliche Kunsthistorikerin und Kuratorin für die Fotokunst der Moderne, die zuletzt durch Ausstellungen über die KünstlerInnen Helga Paris, York der Knoefel, Gabriele Stötzer und die Künstlerinnengruppe Erfurt hervorgetreten ist. Nach einem Stipendium der Alfried-Krupp von Bohlen und Halbach Stiftung im Programm „Museumskuratoren für Fotografie“ und beruflichen Stationen unter anderem in der Galerie Berinson in Berlin, dem Museum für Photographie in Braunschweig und als Fotoexpertin eines Berliner Auktionshauses arbeitet sie seit 2017 als freie Fotohistorikerin, Autorin und Dozentin in Berlin. Schmidt ist Mitglied in der DGPh.


Die Ausstellung entsteht in Zusammenarbeit mit der LOOCK Galerie, Berlin

Biografie

Gabriele Stötzer, 1953 in Emleben bei Gotha geboren, studierte Deutsch und Kunsterziehung an der Pädagogischen Hochschule Erfurt, wurde 1976 exmatrikuliert und kam 1977 wegen einer Unterschriftenaktion gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann für ein Jahr in das härteste Frauengefängnis der DDR nach Hoheneck. Nach ihrer Entlassung arbeitete sie auf Bewährung in einer Fabrik, kündigte und leitete bis zu deren Verbot 1981 die private ‚Galerie im Flur‘ in Erfurt. Danach begann Stötzer als unabhängige Künstlerin zu agieren und begann ein vielfältiges Werk an Texten, Gemälden, Fotografien, Zeichnungen, Filmen, Objekten und Performances zu erschaffen. Stötzer war in der Kunst- und Untergrundszene der DDR aktiv, arbeitete an eigenen Ausstellungsprojekten, Veröffentlichungen, initiierte und begründete die ‚Künstlerinnengruppe Erfurt‘, deren Schaffen mehr als zehn Jahre lang Widerständigkeit, „Projektionsfläche wie auch Ort politischer und sozialer Einschreibungen“ darstellte. 1989 gehörte Stötzer zu den Initiatorinnen der Bürgerinneninitiative ‚Frauen für Veränderung‘ und war in Erfurt an der ersten Besetzung einer Zentrale der Staatssicherheit in der DDR beteiligt. 1991 wurde Stötzer rehabilitiert und erhielt nachträglich ihr Hochschuldiplom. Von 1992 bis 1994 war sie Mitbegründerin des Kunsthauses Erfurt, das sie mit aufbaute. Es folgten Vorträge und Workshops in Deutschland und in den USA, diverse Stipendien sowie weitere Auslandsaufenthalte verbunden mit öffentlichen Ausstellungen, Publikationen, Symposien, Arbeitsstipendien, Vortrags- und Lesereisen. Von 2010 bis 2020 war Stötzer Dozentin für Performance an der Universität Erfurt. 2013 wurde Stötzer für ihr politisches und künstlerisches Engagement in der DDR mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Gabriele Stötzer lebt und arbeitet als Künstlerin in Erfurt, Thüringen sowie in Utrecht, Niederlande.

 

Ausgewählte Publikationen von Gabriele Stötzer

 

Der lange Arm der Stasi, Leipzig 2022, mit Anne König
Rädelsführer: Studentischer Protest in der DDR 1976, Berlin 2018, mit Jochen Vogt 
das brennen der worte im mund, Kyffhäuserland 2017 
De grijze stroom, Utrecht 2012
Das Leben der Mützenlosen, München 2007
Ich bin die Frau von gestern, Frankfurt am Main 2005
Die bröckelnde Festung, München 2002
Erfurter Roulette, München 1995 grenzen los fremd gehen, Berlin 1992 zügel los, München 1990
zügel los. Prosatexte, Berlin/Weimar 1989 

 

Arbeiten in öffentlichen Sammlungen 

 

Berlinische Galerie – Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur, Berlin
Brandenburgisches Landesmuseum für moderne Kunst, Cottbus 
Zeitgeschichtliches Forum, Leipzig
Galerie für Zeitgenössische Kunst, Leipzig
Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße, Erfurt
Getty Research Institute, Los Angeles Harvard Art Museums/Busch-Reisinger Museum, Cambridge
Klassik Stiftung Weimar
Sammlung des Deutschen Bundestages, Berlin
SAMMLUNG VERBUND, Wien/Vienna
Staatliche Kunstsammlungen Dresden 
Städel Museum, Frankfurt am Main 
Walker Art Center, Minneapolis 

 

Ausgewählte Ausstellungen 

 

Einzelausstellungen 

 

2023 
Die Austreibung aus dem Paradies, Galerie Gisela Clement, Bonn
Gabriele Stötzer. Körpergesten und leibliche Zeichen. Fotografie, Galerie Pankow, Berlin (Kat.) 

 

2021 
I come from a country that no longer exists, Galeria Monopol, Warschau
Verführung, LOOCK Galerie, Berlin (Kat.) 

 

2020 
Werk & Fortsetzung – Gabriele Stötzer, Galerie Eigenheim, Berlin, mit Paula Gehrmann 

 

2019 
Bewußtes Unvermögen: Das Archiv Gabriele Stötzer, Galerie für Zeitgenössische Kunst, Leipzig

 

2017 
das brennen der worte im mund, Galerie Kunstraum KTR, Leipzig

 

2013 
Schwingungskurve Leben, Schiller-Museum, Klassik Stiftung Weimar (Kat.) 

 


Gruppenausstellungen 

 

2023 
herzwärts wild. Umbrüche 1982–97. Künstlerinnen aus der DDR, Brandenburgisches Landesmuseum für moderne Kunst, Cottbus 

 

2022 
Restless Bodies. East German Photography 1980–1989, National Gallery of Art, Vilnius 
zer brech lich, Brandenburgisches Landesmuseum für moderne Kunst, Cottbus 
Anti-Social Art: Experimental Forms in Late East Germany, Tweed Museum of Art, University of Minnesota Duluth
A Feminist Avant-Garde. Photographs and Performances of the 1970s from the Verbund Collection, Vienna, Les Rencontres de la Photographie d’Arles (Kat.) 

 

2021 
Hosen haben Röcke an. Künstlerinnengruppe Erfurt 1984–1994, neue Gesellschaft für bildende Kunst, Berlin (Kat.) 

 

2019 
Poetry & Performance. Die osteuropäische Perspektive, Motorenhalle, Dresden
Present Tense: Task of Remembrance, Chinese Culture Center, San Francisco
Restless Bodies. East German Photography 1980–1989, Les Rencontres de la Photographie d’Arles (Kat.) 
Die schaffende Galathea. Frauen sehen Frauen, Kunsthalle Talstraße, Halle/Saale (Kat.)
Artist & Agents – Performancekunst und Geheimdienste, Hartware MedienKunstVerein, Dortmund (Kat.) 

 

2018 
The Medea Insurrection: Radical Women Artists behind the Iron Curtain, Wende Museum, Culver City 
Gerissene Fäden. Annette Messager und Gabriele Stötzer, Brandenburgisches Landesmuseum für moderne Kunst, Cottbus
left performance history, neue Gesellschaft für bildende Kunst, Berlin
Underground und Improvisation. Alternative Musik und Kunst nach 1968, Akademie der Künste, Berlin
Feminismus und Klassenbewusstsein, Sprechsaal, Berlin
In Between. Traumwelten. Vom Träumen und Leben, Kunsthalle Talstraße, Halle/Saale (Kat.)
Poetry & Performance. Die osteuropäische Perspektive, Shedhalle, Zürich 
Hinter dem Spiegel, Brandenburgisches Landesmuseum für moderne Kunst, Cottbus
Medea muckt auf. Radikale Künstlerinnen hinter dem Eisernen Vorhang, Kunsthalle im Lipsiusbau, Staatliche Kunstsammlung Dresden (Kat.) 

 

2016
Gegenstimmen. Kunst in der DDR 1976–1989, Gropius Bau, Berlin

 

2015
Künstler agieren im Umbruch, Kunstsammlungen Zwickau, Max-Pechstein-Museum

 

2013
Zwischen Ausstieg und Aktion. Die Erfurter Subkultur der 1960er, 1970er und 1980er Jahre, Kunsthalle Erfurt (Kat.)
Up Till Now – Wiedervorlagen historischer Performances und Aktionskunst aus der DDR, Galerie für Zeitgenössische Kunst, Leipzig

 

2012
Abschied von Ikarus, Bildwelten in der DDR – neu gesehen, Neues Museum Weimar (Kat.)

 

2011-2014
re.act.feminism #2 — a performing archive, Vitoria-Gasteiz, Danzig, Zagreb, Roskilde, Tallin, Barcelona, Berlin (Kat.) 

 

2011
Entdeckt! Rebellische Künstlerinnen der DDR, Kunsthalle Mannheim (Kat.) 
Trashing Performance, Tate Modern, London 

 

2009
und jetzt. Künstlerinnen aus der DDR, Künstlerhaus Bethanien, Berlin (Kat.) 
Gender Check. Femininity and Masculinity in the Art of Eastern Europe, Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, Wien 

 

2008-09
re.act.feminism — performance art of the 1960s and 70s today, Berlin, Ljubljana, Erfurt

 

1997
boheme und diktatur in der ddr – gruppen, konflikte, quartiere. 1970 bis 1989, Deutsches Historisches Museum, Berlin (Kat.)

 

1990
L’autre Allemagne hors les murs, La Villette, Paris 

 

 

Bibliographie (Auswahl) 

Franziska Schmidt mit Friedrich Loock und/and Christin Öhler (Hg.), Gabriele Stötzer. Die Künstlerbücher 1982–88, Köln/ Cologne 2023 

 

Franziska Schmidt und Annette Tietz (Hg.), Gabriele Stötzer. Körpergesten und leibliche Zeichen. Fotografie, Berlin 2023 

 

Susanne Altmann, Katalin Krasznahorkai, Christine Müller, Franziska Schmidt und Sonia Voss (Hg.), Hosen haben Röcke an. Künstlerinnengruppe Erfurt, Berlin/ Ostfildern 2023 

 

Luise Thieme, „Eigenversuche: Körperlichkeit in der künstlerisch-aktivistischen Praxis Gabriele Stötzers“, in: Anna Artwińska und/and Janine Schulze-Fellmann (Hg.), Gender Studies im Dialog, Bielefeld 2022, S. 223–241 

 

Sara Blaylock, Parallel Public: Experimental Art in Late East Germany, Cambridge 2022 
Gabriele Schor, Feministische Avantgarde: Kunst der 1970er Jahre aus der SAMMLUNG VERBUND, Bd./vol. 2, Wien 2021 

 

Luce Lebart und Marie Robert (Hg.), Une histoire mondiale des femmes photographes, Paris 2020 

 

Luise Thieme, Körperlichkeit und Fotografie bei Gabriele Stötzer. Fotografische Selbstdarstellungen in den 1980er Jahren der DDR, Masterarbeit, Leipzig 2020 

 

Angelika Richter, Das Gesetz der Szene. Genderkritik, Performance Art und zweite Öffentlichkeit in der späten DDR, Bielefeld 2019 

 

Ulrike Bestgen und Wolfgang Holler (Hg./eds.), Gabriele Stötzer. Schwingungskurve Leben, Weimar 2013 

 

Ilse Nagelschmidt, Inga Probst und/and Torsten Erdbrügger (Hg.), Geschlechtergedächtnisse. Gender-Konstellationen und Erinnerungskultur in Literatur und Film der Gegenwart, Berlin 2010 

 

Claus Löser, Strategien der Verweigerung, Untersuchungen zum politisch-ästhetischen Gestus unangepasster filmischer Artikulationen in der Spätphase der DDR, Potsdam 2011 

 

Paul Kaiser und/and Frank Eckhardt (Hg.), Ohne uns: Kunst & alternative Kultur in Dresden vor und nach ‘89, Dresden 2009 

 

Mechthild Lobisch, Austauschbar – zusammengedacht. Dokumentation einer Arbeitswoche zu Gabriele Stötzers autobiographischen Text „Die bröckelnde Festung“, München 2004 

 

Monique Förster, Künstlerinnengruppe Exterra XX: Impressionen, Erfurt 2001 

 

Beth V. Linklater, Und immer zügelloser wird die Lust. Constructions of sexuality in East German literatures, Bern 1998 

 

Außerdem erschienen Ausstellungskataloge (siehe Ausstellungsverzeichnis) und hier nicht aufgeführte Veröffentlichungen in Anthologien und Zeitschriften. 

Galerie Gisela Clement