Eröffnung Dienstag, 3. Juni, 19 Uhr Zur Eröffnung spricht Julia Moebus-Puck, Wiener Aktionismus Museum, Wien
Für ihre Einzelausstellung „sore arms & french tips“ hat Lola von der Gracht eine neue, raumspezifische Videoinstallation geschaffen.
In dieser folgen wir der Künstlerin auf einer Reise durch ihre Vergangenheit, Gegenwart und in die Zukunft, wobei wir sowohl Teil ihres persönlichen als auch ihres öffentlichen Lebens werden. Die Collage aus Text und Videomaterial lässt verschiedene Ebenen miteinander verschmelzen. Als Ich-Erzählerin gewährt uns von der Gracht, wie in einem Tagebuch, intime Einblicke in ihre Suche nach Ankommen. Dabei greift sie ästhetische Mittel der sozialen Medien auf und lässt das Leben wie einen unkontrollierbaren Rausch vorbeiziehen, in dem die Grenzen zwischen dem Persönlichen und dem Kollektiven zunehmend verschwimmen.
Lola von der Gracht ist eine interdisziplinäre Künstlerin, deren Werk Fotografie, Collage, Installation und Performance umfasst.
Das zentrale Thema ihrer Arbeit ist die Erforschung von Identität, Geschlecht, Zugehörigkeit und Gemeinschaft aus einer queer-feministischen Perspektive.
Wenn wir an Kunst denken, denken wir an daran zu sehen, an Bilder, gemalte oder fotografierte. Vielleicht auch an Skulpturen, Plastiken, installativ im Raum in ein spezielles Narrativ gebracht. Wir denken daran, das zu finden, was der Künstler oder die Künstlerin damit intendiert. Aber vielleicht auch, um das zu finden, was wir gerade dabei spüren.
Wir sehen nicht immer nur die Bilder, die gezeigt werden. Oft sind es ganz andere, unsere eigenen subjektiven Bilder und Geschichten, die dabei entstehen. Aus unserem Unterbewusstsein treten zwischen den Abbildungen, Selbstbilder hervor. Das zuvor Unsichtbare transformiert sich in Sichtbares, Fühlbares, Erlebbares.
Bei den Arbeiten von Lola von der Gracht spielt genau das eine Rolle: Das Verhältnis von Menschen und ihren Wirklichkeiten. Von Weltbildern und Selbstbildern. Und das im Rahmen unserer heutigen rasant entwickelnden Medienlandschaft, die so viele Bilder erzeugt, wie nur möglich. „Wir sehen vor lauter Bildern, den Wald nicht mehr“ könnte es auch heißen. Durch die unendlichen Möglichkeiten der digitalen Bildbearbeitung entstehen Bilder, die in ihrer Gestalt nicht der Wirklichkeit entsprechen, aber dennoch Abbilder derer sind. Sie formieren neue Wirklichkeiten.
Lola von der Gracht geht sehr direkt mit ihrer Wirklichkeit um. Welches Geschlecht sie hat und damit auch, welche Rolle sie in der Gesellschaft einzunehmen hat. Mit all den Erwartungen, Wünschen und Hoffnungen, die diesem zugeschrieben werden, aber sich in ihrem Fall nicht mit ihrer gefühlten Wirklichkeit decken. Das spürt sie lange, bis sie sich entscheidet, ihre Wirklichkeit selbst zu gestalten. Ein Prozess, der selbst erstmal als Wirklichkeit anerkannt werden muss, bevor er zum Tragen kommt. Neben den vielen medizinischen, wie technologischen Wirklichkeiten, denen sie sich stellen muss, treffen auch alle damit verbundenen Gedanken, Ängste, Freuden etc. aufeinander. Die bleiben unsichtbar und wurden von Lola von der Gracht nun in sichtbare Bilder verwandelt.
Das Geschlecht ist ein System von Regeln, Konventionen, sozialen Normen und institutionellen Praktiken, die das Subjekt, das sie zu beschreiben vorgeben, performativ erzeugen. Durch ihre Austin, Derrida und Foucault kreuzende Lektüre betrachtet z.B. Judith Butler das Geschlecht nicht als Essenz, aber auch nicht als psychologische Wahrheit, sondern als diskursive Praxis und körperliche Performativität, durch die das Subjekt sozial intelligibel und politisch anerkannt wird. Heute verbindet sich diese Analyse Butlers mit Donna Haraways Studien zur Befragung der semiotechnischen Dimension dieser performativen Produktion: die performative Hypothese in den Körper zu verlegen, sie bis in die Flüssigkeiten, in die Zellen, in die Gene eindringen zu lassen.
Ihren gesamten Entwicklungsprozess Lola auf Instagram dokumentiert. DER Plattform zur Definition von Wirklichkeit. Dem schier endlosen Meer aus Abbildungen, Selbstbildern. Selbstpräsentationen und Metaebenen. Für die Selbstdokumentation auf Instagram müssen Momente kreiert werden, die in Bildern etwas erzählen. Einen Zusammenhang kreieren, der in wenige Sekunden Story passt. Es stellt sich die Frage nach Inszenierung und Dokumentation. Was ist echt? Was bedeutet echt? Wie echt kann die Inszenierung sein?
In ihren hier gezeigten Arbeiten sehen wir eine Überlagerung von Motiven, Bildern, die neue Bilder schaffen. Fingernägel, Objekte der Identifikation, werden zu abstrakten Formen, das Foto eines Geschlechts in formvollendeter Schönheit, erinnernd an Courbets Ursprung der Welt (L`Origine du monde, 1866). Dann wieder Identifikation, eine Farbenpracht, die idealisiert, Gefühle erzeugt, einen klang in den Rhythmus der Bilder bringt. Es eröffnen sich Welten.
Ich zitiere Paul Virilio: „Betrachten, was man nicht betrachten würde, hören, was man nicht hören würde, auf das Banale achten, auf das Gewöhnliche, auf das infra-Gewöhnliche. Die ideale Hierarchie zwischen dem, was entscheidend, und dem, was anekdotisch ist, bestreiten, weil es Anekdotisches nicht gibt, es gibt nur herrschende Kulturen, die uns aus uns selbst und den anderen exilieren: ein Sinnverlust, der für uns nicht nur eine Siesta des Bewusstseins ist, sondern ein Niedergang der Existenz.“
Und:
„Die neue Wahrheit des Sehens veränderte die Rhythmen des Lebens.“
[Virilio, Paul: Ästhetik des Verschwindens, Berlin 1986]
Rebellion, Tod, Liebe, Freiheit, Sucht, Hoffnung und Identität. Das sind die Themen, mit denen sich die Künstlerin Lola von der Gracht in ihren Arbeiten auseinandersetzt. Und was machen diese neuen vermeintlichen Wahrheiten des Sehens, von denen ich behaupte, dass es viele Wahrheiten gibt, mit dem Rhythmus dieser Themen? Wie verändert sich unser Verhältnis zu Tod, Liebe, Freiheit, Hoffnung und Identität? Wieviel Angst ist spürbar in unserer Gesellschaft, während wir gleichzeitig in die Vermeidung von Gefühlen und Differenzen gehen?
Lola von der Gracht arbeitet an der Schwelle zu Performance, Fotografie, Collage und Zeichnung. Der Körper ist dabei oft ein zentrales Ausdrucksmittel. Inwieweit ist das Performative Mittel in all ihren Arbeiten zu erkennen? Und was bedeutet es? Nach dem Performativen in der Kunst zu fragen, heißt entsprechend auch nicht, eine neue Klasse von Kunstwerken zu definieren. Vielmehr bedeutet es, eine Ebene der Bedeutungsproduktionen zu konstruieren, die in jedem Kunstwerk vorhanden ist, die aber nicht immer bewusst und aktiv gestaltet wird, nämlich seine realitätserzeugende Dimension.
Seit Duchamp das Readymade als „Denkzeug“/“Werkzeug“ in die Kunstpraxis eingebracht hat, tritt das Denken – das gedankliche Handeln, die imaginative Aktion -, nicht mehr hinter das Objekt zurück, sondern wird zu einem wesentlichen Parameter zeitgenössischer Werkbegriffe. Erst im komplexen Zusammenspiel von konzeptueller Geste und materieller Realisation erfüllt sich die Vorstellung vom Kunstwerk als Medium der Erkenntnis und als Widerstandsmodul gegen die Kontingenzen der alltäglichen Unzulänglichkeiten.
Der Körper und die Körperlichkeit spielen eine wesentliche Rolle in ihrem Werk. Die Darstellung des menschlichen Körpers in der Kunst zieht sich durch die gesamte Kunstgeschichte: In der Renaissance erlebte die künstlerische Darstellung des menschlichen Körpers eine Wiederbelebung, inspiriert durch die Wiederentdeckung der antiken Kunst und die Beobachtung und Studie der Anatomie. Künstler wie Leonardo da Vinci und Michelangelo schufen Werke wie die Mona Lisa und die Sixtinische Kapelle, die die Schönheit und Komplexität des menschlichen Körpers in nie da gewesener Weise darstellten.
In der Moderne haben Künstler wie Pablo Picasso und Salvador Dalí die künstlerische Darstellung des menschlichen Körpers weiterentwickelt, indem sie traditionelle Formen aufgebrochen und neu interpretiert haben. Durch den Einsatz von abstrakten Formen und unkonventionellen Techniken haben sie neue Wege gefunden, um die Vielschichtigkeit und Vielfalt des menschlichen Körpers zu erfassen.
Später, nach dem zweiten Weltkrieg arbeiteten die Künstler und Künstlerinnen beginnend im Wiener Aktionismus mit dem Körper als künstlerisches Material, auch als politisches Ausdrucksmittel. Schmerz und Traumata als Erlebnisse des Zweiten Weltkriegs standen im Vordergrund, der Körper als Projektionsfläche, als eigenes Werkzeug um dies sichtbar zu machen. Während es im Wiener Aktionismus in erster Linie vier Männer waren, die schockierten waren es interessanterweise in den darauffolgenden Jahren die Frauen, die sich intensiv mit ihrem Körper und ihrem Körperbild auseinandersetzten. Die Body Art entstand, Gina Pane, Marina Abramovic als zwei internationale weibliche bekannte Persönlichkeiten brachten ihren eigenen Körper an seine Grenzen, wodurch dann die Definition des Körpers auf eine ganz andere Ebene, den Werkkörper, gebracht wird. Der Körper an sich bzw. die Wahrnehmung dessen, ist ein Produkt kultureller gesellschaftlicher Entwicklungen. Sie schreiben sich wie Codes in den Körper ein. Insbesondere in unserer heutigen Zeit, streben wir mehr und mehr nach dem idealen Körper. Die haut als Identifikationsfläche. Auch wenn in den sozialen Medien Raum gegeben wird für das Anderssein, das Darstellen von Anderssein, ist es eben die Darstellung. Was ist das Leben des Anderssein? Was unterscheidet die Darstellung vom Leben?
„Mein Körper ist die Absicht, mein Körper ist das Ereignis, mein Körper ist das Ergebnis!“ sagte Günter Brus in den späten 60er Jahren.
In einer Welt, die von technologischem Fortschritt und virtuellen Realitäten geprägt ist, setzt die zeitgenössische Kunst ein Zeichen: Sie erinnert uns daran, dass wir als Menschen immer noch eine physische Präsenz haben – mit all unseren Stärken und Schwächen.
Und das bewirken auch Lolas Arbeiten. Sie sind poetisch und einfühlsam, stark und selbstbewusst in ihrer Form und ihrem Ausdruck. Radikal in ihrer Authentizität. Auf ihrer großformatigen Collage hier in der Ausstellung taucht sie ab, in die Tiefe und Weite des Wassers, still und dumpf, kommt direkt auf uns zu. Wir müssen unruhig und sensibel bleiben. Sie kommt uns immer näher, blickt uns direkt an, pustet uns Luftblasen ins Gesicht. Lässt uns träumen? Das Reale ist nicht un-bedingt das Sichtbare. Es gehört immer zu uns und unserem Bild.
Galerie Gisela Clement